Seit 1911 wird jedes Jahr am 8. März weltweit der Internationale Frauentag begangen. Henri Dunant, Ideengeber und Mitbegründer des Roten Kreuzes, der am 30. Oktober 1910 in Heiden starb, hätte einen Tag, der die Gleichberechtigung der Frauen einfordert, sehr begrüßt. Denn die Vielfalt seiner Ideen ging weit über die Gründung des Roten Kreuzes hinaus und erstreckte sich auch auf soziale Fragen wie die politische und rechtliche Gleichberechtigung der Frau. Auch wenn heute einige seiner Äußerungen über das Wesen der Frau recht antiquiert wirken, war er von der herausragenden Rolle der Frau bei der Verwirklichung seiner Ideen für eine friedliche und gerechte Welt überzeugt und entwickelte lange vor anderen Männern eine „feministische Perspektive“.
Henri Dunant wurde am 8. Mai 1828 in eine wohlhabende und wohltätige Genfer Familie geboren. Sein Vater Jean-Jacques Dunant, Kaufmann und Ratsherr, spendete einen Teil seiner Einkünfte für die Bedürftigen, er verwaltete die Armenkasse der Stadt und kümmerte sich um Waisenkinder. Im eigentlichen Sinne wohltätig war seine Mutter Anne-Antoinette Dunant. Sie betreute unter anderem die Not leidenden Bewohner eines Genfer Arbeiterviertels, eine Unternehmung, auf der Dunant sie schon als kleiner Junge regelmäßig begleitete. Die Mutter sollte ihm, der unverheiratet blieb, zeit seines Lebens ein Vorbild bleiben.
Weil die männlichen Prinzipien die Welt beherrschen
Zu Beginn seines Wirkens gestand Dunant – von Haus aus konservativ – den Frauen innerhalb des Roten Kreuzes lediglich eine sorgende und helfende Rolle zu. Nach der Schlacht von Solferino (1859) waren es die Frauen, die gemeinsam mit ihm die Verwundeten versorgten und die Sterbenden begleiteten. Vor dem Hintergrund der kriegerischen Auseinandersetzung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – so der Deutsch-Dänische Krieg, der Preußisch-Österreichische Krieg und der Deutsch-Französische Krieg – verliert Dunant die Hoffung, dass sein Wirken zukünftige Kriege verhindern wird. „Apokalyptische Ereignisse kommen auf die Menschheit zu“, so Dunant, „weil die männlichen Prinzipien die Welt beherrschen: Eigennutz, Militarismus, brutale Kraft.“ Die Seelen der Frauen hingegen seien offen für das Gute und bereit, bei allen Leiden mitzufühlen.
Der segensreiche Einfluss starker Frauen
Diese Meinung verdankte sich nicht zuletzt der Zeitgenossenschaft mit den interessantesten und streitbarsten Frauen seiner Zeit, mit denen er zum Teil persönlich bekannt wurde. So lernte er die US-Amerikanerin Harriet Beecher-Stowe (1811 – 1896), Verfasserin von „Onkel Toms Hütte“, kennen. Ihren Bestseller, ein Plädoyer gegen Sklaverei und Unterdrückung, für die Befreiung der Sklaven und die Gleichberechtigung der Frauen, kannte er. Dunant, der in seinem Buch „Régence de Tunis“ den Amerikanern selber menschenverachtenden Handel vorwarf, traf Beecher-Stowe in Genf und schrieb später in seinen Erinnerungen: „Sie übte einen segensreichen Einfluss auf mich aus.“
Florence Nightingale (1820 – 1910), Begründerin der Krankenpflege und Initiatorin der modernen Pflegeausbildung, die bereits im Krimkrieg (1853 – 1856) verwundete Soldaten gepflegt hatte, war für Dunant in der Schlacht von Solferino Vorbild. Später schrieb er: „Obgleich man mich den Gründer des Roten Kreuzes und Urheber der Genfer Konvention nennt, gebührt die Ehre ebenso dieser Engländerin.“
Er verfolgte aufmerksam die Erfolge Clara Bartons (1821-1912), die zunächst im nordamerikanischen Bürgerkrieg als Helferin Verwundete gepflegt hatte. Präsident Lincoln beauftragte sie nach dem Krieg mit der Nachforschung nach Verwundeten und Gefangenen. 1869 fuhr sie nach Europa und erfuhr in Genf von der Existenz des Roten Kreuzes. Mit der Absicht, dass auch ihr Volk das Rote Kreuz kennenlernen und dessen vertragliche Verpflichtung einhalten sollte, gründete sie 1881 «American Association of the Red Cross», deren Präsidentin sie zwanzig Jahre lang war.
Besondere Bedeutung für Dunant hatte die Pazifistin, Schriftstellerin und Freundin Alfred Nobels, Baronin Bertha von Suttner (1843-1914). 1889 erschien das Buch „Die Waffen nieder“, das Suttner über Nacht berühmt machte. Das Buch, in dem von Suttner ausdrücklich Dunant als Gründer des Roten Kreuzes erwähnt, galt seinerzeit als das wichtigste Werk der Antikriegsliteratur. Neben der Frage von Krieg und Frieden behandelte es auch das Selbstverständnis und die Rolle der Frauen in der Gesellschaft. Dunant war von diesem Werk begeistert. Suttner setzte sich dafür ein, dass Dunant 1901 als zusammen mit dem französischen Pazifisten Frédéric Passy den ersten Friedensnobelpreis verliehen bekam.
Die Reihe der Frauen, die Dunant inspirierten, von ihm inspiriert wurden oder ihn in den harten Zeiten, in denen er von der Welt vergessen selber größte Not litt, unterstützten, lässt sich fortsetzen: Da ist die großzügige Helferin im Krimkrieg und in Solferino Gräfin Agénor de Gasparin (1813-1894). Da ist die deutsche Kaiserin und Förderin des Roten Kreuzes Augusta von Sachsen-Weimar (1811-1890). Außerdem Madame Léonie Kastner-Boursault (1820- 1888), eine wohlhabende Französin und enge Vertraute Dunants, die ihn Anfang der 1870er Jahre unterstützte, als er in Paris keinen festen Wohnsitz hatte und oft unter Hunger und der großen Kälte litt. Oder Ida Wagner, die Ehefrau des Stuttgarter Pfarrers Ernst Wagner, die den völlig verarmten Dunant auch nach dem Tod ihres Mannes über Jahre beherbergte und sich um ihn kümmert. Nicht zu vergessen die Dunant-Biografin und Rotkreuz-Delegierte Catharina Sturzenegger (1854-1929), Zarin Maria Fjodorowna (1847-1928) und die Diakonisse Elise Bolliger (1838-1912), die den alternden Dunant in Heiden fast zwanzig Jahre lang pflegte.
Wider die männliche Gleichgültigkeit und Apathie
Diese Erfahrungen und die gegenseitige Inspiration lassen in den 1890er Jahren eine neue Idee des unermüdlichen Visionärs reifen. Sein Streben gilt nun auch der Verbesserung der Lage der Frauen. Zu jener Zeit haben diese in keinem europäischen Staat politische Rechte. Sie werden von Ehe- und Arbeitsrecht benachteiligt, Veränderungen, so Dunant, seien nicht in Sicht, wegen „der männlichen Gleichgültigkeit und Apathie“. Für ihn ist es eine Frage der Gerechtigkeit, Männer und Frauen endlich juristisch gleichzustellen. Ebenso ist ihm die gleiche Entlöhnung von Männern und Frauen für dieselbe Arbeit ein großes Anliegen. Um diese Gleichstellung umzusetzen regt Dunant die Gründung eines internationalen Frauenhilfsbundes unter dem Namen „Grünes Kreuz“ an. Getragen werden soll diese „feministische Allianz“ von den Frauen selber. Männer sind wenn überhaupt als Geldgeber vorgesehen. Dunant plant außerdem eine Zeitschrift über Frauen und ihren Beitrag zu Kunst und Wissenschaft, zum sozialen Fortschritt und in der Arbeitswelt sowie für das Jahr 1896 ein feministischer Kongress, der in Zürich stattfinden soll.
Er verfasst Schriften unter dem Titel „Der weibliche Individualismus“ und „Die Zukunft der Frau“. Die Quintessenz seiner Überlegungen fließen in seine Vorschläge für die Flugblätter ein, mit denen der Kongress beworben werden soll: „ Aber männliche Nachlässigkeit und Apathie verzögern oft die dringend notwendigen Reformen.“ „Je stärker sich der weibliche Einfluss in einem Volk bemerkbar macht, um so mehr entwickelt es die Friedensliebe.“ „Das moralische Niveau eines Volkes misst sich am Rang, den die Frau in der Gesellschaft einnimmt.“ „Es ist der Militarismus und alles, was mit ihm zusammenhängt, der darauf Wert legt, dass die Frau unterjocht bleibt.“
Für die Gleichberechtigung und soziale Absicherung der Frau
Der Kongress findet nicht statt, die Idee des internationalen Frauenhilfsbundes wird nur von wenigen Zeitgenossinnen und -genossen aufgenommen und verliert sich im Laufe weniger Jahre. Möglicherweise war Dunants Zeit nicht reif. Aus heutiger Zeit wiederum wirkt sein Frauenbild antiquiert. Die Frau ist ihm die Einfühlsame, Sanftmütige, den Nächsten Liebende, um friedliche Konfliktlösung Bemühte. Sie ist die – wenn auch aktive und gestaltende – Hüterin des heimischen Herdes. Dies sollte aber nicht vergessen lassen, dass er, lange bevor es opportun wurde, ihre Gleichberechtigung forderte und diesen Forderungen Vorschläge zur sozialen Absicherung von Frauen zur Seite stellte, so zum Beispiel einen jährlichen Zuschuss zur Kindererziehung und eine soziale Grundsicherung für Notfälle wie Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Alter in Einsamkeit.
Zitate aus: Eveline Hasler: Der Zeitreisende. Die Visionen des Henry Dunant, Zürich, 1994
Weiterführende Literatur:
Hans Amann: Frauengestalten um Henri Dunant, Heiden, 2000
Franco Giampiccoli: Henry Dunant, der Gründer des Roten Kreuzes, Neukirchen-Vluyn, 2009 (u.a. zum feministischen Horizont Henri Dunants)
Roger Durand: Henri Dunant, Genf 2011 (u.a. Betrachtung zu Dunants „altmodischem Feminismus“)
Quelle: Deutsches Rotes Kreuz Landesverband Hessen e.V.